Feddersen Wierde
Nach dem Abschmelzen des Eises in der Nacheiszeit stieg der Meeresspiegel stark an und das Meer erreichte um 6000 v. Chr. die heutige Küstenlinie. Mit dem weiteren Anstieg des Meeres begann die Ablagerung von Tonen und Sanden: Allmählich entstand die Marsch. Am Ufersaum der Küste zwischen Weser und Elbe wurde im 3. und 2. Jh. v. Chr. ein Strandwall aus Sanden und Kiesen vom Meer angelandet. Auf ihm errichteten im 1. Jh. v. Chr. während einer neuen Rückzugsphase des Meeres mehrere Siedlergruppen ihre Wohnplätze zu ebener Erde. Bereits im 1. Jh. n. Chr. stieg das Meer erneut an und die Bewohner der Marsch waren gezwungen, ihre Wohnplätze zu erhöhen. Der Wurtenbau begann.
Eine dieser Wurten, die Feddersen Wierde, wurde vom Niedersächsischen Institut für historische Küstenforschung (Wilhelmshaven) zwischen 1955 und 1963 mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft nahezu vollständig ausgegraben. In Zusammenarbeit zwischen Archäologen, Botanikern und anderen Naturwissenschaftlern gelang es zum ersten Mal im Nordseeküstengebiet, die Entstehung und Entwicklung einer derartigen Siedlung im Wechselspiel mit dem Naturraum vollständig zu studieren.
Wurtenbau
Während des 1. Jh. n. Chr. stieg der Meeresspiegel wieder an und die Sturmfluten liefen wieder höher auf. Dies zwang die Bewohner der Marschen, ihre Ansiedlungen zu erhöhen. Dazu verwendete man Stallmist, der mit dem anstehenden Marschenton, dem Klei, abgedeckt wurde. Damit wurden aber auch die Siedlungsschichten konserviert. Erhalten hatten sich die Gebäudereste in Holz und alles organische Material (Pflanzenreste, Knochen usw.).
Bis zum 5. Jh. n. Chr. wurde die Siedlung siebenmal erhöht und erreichte eine Fläche von fast 4 ha und eine Höhe von 4 m.
Mit der ersten Phase des Wurtenbaus entstand die Struktur der um einen freien Platz angeordneten Höfe.
Wohn-Stallhaus
Das Hauptgebäude eines bäuerlichen Wirtschaftsbetriebes war das dreischiffige Wohn-Stallhaus. Im Zentrum des Wohnteils liegt der Herd. Der angrenzende Wirtschaftsraum ist durch zwei Seiteneingänge von außen erschlossen. Im anschließenden Stallteil sind die Seitenschiffe in Viehboxen unterteilt, in denen je zwei Rinder mit dem Kopf zur Wand aufgestallt werden konnten. Die Betriebsgrößen sind unterschiedlich. So wurden in den großen Höfen 24 - 30 Rinder, in den mittleren 20 - 22 und in den kleinen Betrieben 12 - 18 Tiere untergebracht.
Das wichtigste Nebengebäude eines solchen Betriebes ist der Speicher, in dem die Vorräte trocken und relativ sicher vor Ungeziefer aufbewahrt wurden.
Umwelt und Ackerbau
Die in den Wurtenschichten außergewöhnlich gut erhaltenen Pflanzenreste ließen eine zuverlässige Rekonstruktion der Umwelt der Feddersen Wierde zu. Die Siedlung lag demnach im baumlosen Marschenland, inmitten von Strandwiesen. Diese waren regelmäßig winterlichen Salzwasserüberflutungen ausgesetzt. An den Wasserläufen, den Prielen, standen verschiedene Röhrichte, die zum Geestrand hin allmählich nachlassenden Salzwassereinfluss zeigten.
Auf den höher aufgelandeten Uferwällen lagen die Ackerflächen. Dort wurden im Sommerfruchtbau in der Reihenfolge ihrer Bedeutung angebaut:
- Spelzgerste
- Pferdebohne
- Lein und Leindotter als Ölpflanzen
- Saathafer, Rispenhirse und Emmer.
An mehreren Stellen konnten Teile der alten Äcker aufgedeckt werden. Pflugspuren belegten die frühe Verwendung des Streichbrettpfluges.
Viehzucht
Das Wohn-Stallhaus mit seinen Viehboxen zeigt bereits deutlich die Bedeutung der Viehzucht auf der Feddersen Wierde. Fast 50 000 untersuchte Tierknochen ließen den Viehbestand recht genau rekonstruieren.
Die Haustiere lieferten nicht nur Fleisch, sondern auch Milch, Felle, Wolle sowie Horn und Knochen zur Herstellung von Geräten.
Pferde dienten sowohl als Zug-, Reit- und Tragtiere als auch als Fleischlieferanten.
Die Knochenbestimmungen ließen auch Bestimmungen zum Schlachtalter zu. Sie zeigten, dass ein großer Teil der Kälber und Fohlen bereits im ersten Herbst geschlachtet wurden. Somit konnte man dem winterlichen Futtermangel ausweichen.
Handwerk
Im Laufe der Besiedlung wurden auch immer mehr kleinere Häuser gebaut. Diese besaßen nur einen kleinen Stallteil oder die Stallboxen fehlten völlig. Die Lebensgrundlage der Bewohner dieser Häuser bildete nicht mehr die Landwirtschaft, sondern die Ausübung eines Handwerkes. Die Handwerkerhäuser lagen meistens auf dem Gelände der "Mehrbetriebsgehöfte" (Familienverbände). Die Versorgung mit Naturalien sicherten die Bewohner der benachbarten Wohn-Stallhäuser.
Es konnten unter anderem folgende handwerklichen Tätigkeiten nachgewiesen werden:
- Zimmermannshandwerk
- Holzschnitzerei und Drechseln
- Töpferei
- Spinnen und Weben
- Verarbeitung von Häuten
- Bearbeitung von Knochen
- Schmieden von Eisen
- Buntmetallguss
Handel
Der Bedarf des Dorfes an bestimmten Rohstoffen setzte "Handelsbeziehungen" voraus. Von der Geest wurden Holz, Holzkohle, Roheisen, Mahlsteine aus Granit und anderes mehr beschafft. Von besonderem Interesse sind römische Funde, die vor allem im 2. und 3. Jh. n. Chr. auf die Feddersen Wierde gelangten. Dazu gehören Gebrauchsgüter, wie Mahlsteine aus rheinischem Basalt, aber auch Münzen, Fibeln und römische Keramik, die sog. "terra sigillata". Als Luxusgegenstand ist der Fund eines römischen Fächers anzusehen. Es waren wohl die Angehörigen des Herrenhofes, die über die Möglichkeiten verfügten, den regionalen Gütertausch zu organisieren. Wahrscheinlich waren auch sie diejenigen, die für den römischen "Import" sorgten. Römische Funde können jedoch nicht nur durch den Handel erklärt werden. Sie geben auch Hinweise auf militärische Kontakte mit den römischen Grenzprovinzen. So können einzelne Funde u. a. auch als Beutegut, Soldzahlung oder Ausrüstung zurückkehrender Dorfbewohner aus römischem Militärdienst gedeutet werden.
Herrenhof und Sozialstruktur
Bereits in der jüngsten Phase der Flachsiedlung ist anhand der verschieden großen Gebäude die Entwicklung unterschiedlichen Wohlstandes zu erkennen. In der ersten Wurtenphase, an der Wende vom ersten zum zweiten Jahrhundert, wird in zentraler Lage als Hauptgebäude eines Mehrbetriebsgehöftes ein großes Wohn-Stallhaus errichtet.
In der nachfolgenden Siedlungsperiode entsteht am Rande dieses Mehrbetriebsgehöftes und des Dorfes ein Hallenhaus, der "Herrenhof". Zum Ende des 2. Jh. n. Chr. ist an dieser Stelle eine größere Halle ohne Stallteil erbaut. Das Mehrbetriebsgehöft umfasst nun auch ein eingezäuntes Werkstattgebiet der Metallverarbeitung. Die Bewohner der großen, von einem Palisadenzaun abgesetzten Halle waren offenkundig mit der Organisation von Handwerk, Landwirtschaft und in der Folge von Handel befasst. Ihr Viehbestand war wahrscheinlich auf einem Nachbarhof untergebracht. In der Siedlungsphase des 3. Jh. n. Chr. mit 26 Betrieben blieb das große Mehrbetriebsgehöft in seiner Struktur mit Wohn- und Versammlungshalle erhalten.
Ein zweites Hallenhaus wird als Versammlungshalle gedeutet. Die Halle diente aber nicht nur wirtschaftlichen Zwecken. Bereits in der vorhergehenden Siedlungsphase deutete einiges auch auf eine religiöse Nutzung hin.
Der Herrenhof behielt seine Bedeutung bis zur Aufgabe der Siedlung im 5. Jh. n. Chr. In der Spätphase prägten vor allem handwerkliche Betriebe mit kleiner Stallfläche das Siedlungsbild. Schließlich wurde die Feddersen Wierde verlassen. Die Bewohner der Wurt - "Sachsen" - nahmen teil an der angel- "sächsischen" Besiedlung Britanniens.